Psychische Belastungen sind nicht grundsätzlich etwas schlechtes, ganz im Gegenteil. Der Mensch braucht psychische Belastung, denn sie ist der „Motor“ für die menschliche Entwicklung. Ein Problem ergibt sich, wenn es zu psychischen Fehl-Belastungen kommt. Unter psychischen Belastungen werden Anforderungen an den Beschäftigten verstanden, die durch:

 

Psychische Fehl-Belastungen führen zu Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Beschäftigten. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen steigt in den letzten Jahren aus verschiedenen Gründen an.

 

Für den Bereich der psychischen Belastung werden zur Zeit die Entwürfe der überarbeiteten internationalen Norm „ISO 10075 – Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung“ in den zuständigen Gremien beraten:

prEN ISO 10075-1:2015– Allgemeine Konzepte und Begriffe,

prEN ISO 10075-1:2015– Gestaltungsgrundsätze,

prEN ISO 10075-1:2015– Messung und Beurteilung.

Der Zeitpunkt der Verabschiedung dieser Normteile kann aktuell nicht eingeschätzt werden. Die ISO 10075 greift das in der deutschsprachigen Arbeitswissenschaft übliche Ursache-Wirkungsmodell mit der Unterscheidung der Begriffe „Belastung“ und „Beanspruchung“ auf. Demnach ist:

Psychische Belastung: Die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn wirken.

Psychische Beanspruchung: Die unmittelbare (nicht die langfristige) Auswirkung der psychischen Belastung im Individuum in Abhängigkeit von seinen jeweiligen überdauernden und augenblicklichen Voraussetzungen, einschließlich der individuellen Bewältigungsstrategien.

 

Alle Arbeitgeber müssen eine Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz erstellen. Hierbei sind alle Gefährdungen, die die Beschäftigten am Arbeitsplatz betreffen können, zu berücksichtigen. Hierzu gehören auch die psychischen Belastungen einschließlich des Bereiches Mobbing.

 

In Japan bezeichnet man einen plötzlichen berufsbezogenen, meist durch Stress ausgelösten Herzinfarkt oder Schlaganfall mit Todesfolge als Karōshi (jap., Über-Arbeiten-Tod = Tod durch Überarbeiten).

KarōshiKarōshi ist in Japan mittlerweile als haftungspflichtige Todesart (vergleichbar einer deutschen Berufskrankheit) anerkannt und wird in den amtlichen Todesfallstatistiken separat ausgewiesen. Da, anders als in der Bundesrepublik, in Japan stets der Arbeitgeber für die Haftungsfolgen aufkommen muss, verklagen immer mehr Hinterbliebene von Karōshi-Opfern die jeweiligen Arbeitgeber auf Entschädigungszahlungen, falls die Arbeitsüberwachungsbehörde den Fall als berufsbedingten Tod anerkannt hat.

Nicht zuletzt die Aufnahme von Karōshi in die japanische Berufskrankheitenliste hat auch in Japan zur Erkenntnis geführt, dass Arbeitnehmer nicht über Jahre hinweg sechs bis sieben Tage pro Woche mehr als zwölf Stunden täglich arbeiten können, ohne körperlich und psychisch darunter zu leiden.

In Deutschland werden Todesfälle durch die Folgen von Überarbeitung, egal ob Herzinfarkt, Schlaganfall oder Suizid im Allgemeinen nicht als Berufskrankheit anerkannt. Dennoch sollte einem alleine die Möglichkeit von Karōshi als möglichem Endpunkt zu hoher beruflicher Belastung zu denken geben. Dies erfordert, die mit dem Wort „Stress“ beschriebene psychische Fehl-Belastung nicht als lediglich „weichen Faktor“ anzusehen, sondern diesem Thema im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung den dafür angemessenen Raum einzuräumen.

Bislang zählt die Betrachtung der psychischen Fehl-Belastungen und Beanspruchungen aber zu den schwierigsten Themen in der Gefährdungsbeurteilung und wird oft als so heikel erachtet, dass es (sogar in großen renommierten Unternehmen oder auch seitens der Behörden) häufig schlicht „vergessen“ wird.

 

Was ist Stress?

1936 hatte der Mediziner Hans Selye den Begriff Stress aus der Werkstoffkunde entlehnt, um damit die „unspezifische Reaktion des Körpers auf jegliche Anforderung“ zu benennen. In einer Ansprache Jahrzehnte später teilte er stolz mit: „Ich habe allen Sprachen ein neues Wort geschenkt – Stress“ und fasste so sein Lebenswerk kurz und prägnant zusammen. In der Werkstoffkunde bezeichnet der englische Begriff „Stress“ den Zug oder Druck auf ein Material, letztendlich also die Spannung im Werkstoff, aber auch die Materialermüdung.

Unter Stress versteht man heute jegliche Beanspruchung (Auswirkung der Belastungen auf den Menschen) durch Anforderungen bzw. Belastungen (objektive, von außen her auf den Menschen einwirkende Größen und Faktoren). Die einwirkenden Größen können dabei physikalisch-chemischer Natur sein (Kälte, Hitze, Lärm, starke Sonneneinstrahlung etc. ebenso wie toxische Substanzen wie Rauch), allerdings wird der Begriff Stress umgangssprachlich in erster Linie für die Anpassung des Körpers an psychische Belastungen sowie bestimmte eigene Einstellungen, Erwartungshaltungen und Befürchtungen verwendet.

Um ungesunden Arbeitsstress (psychische Fehl-Belastungen) zu charakterisieren, haben sich insbesondere zwei Modelle sehr bewährt: Das Anforderungs-Kontroll-Modell (Job Demand/Controll Modell) von Karasek bzw. Karasek und Theorell (1990) und das Effort-Reward-Imbalance Modell nach Siegrist (1996). Weiterhin gibt es schon lange Erkenntnisse darüber, dass Tätigkeiten, die den Merkmalen sogenannter „Vollständiger Tätigkeiten“ nahekommen eine gute Basis für Arbeitszufriedenheit bilden. Mitarbeitern, die vollständige Tätigkeiten ausführen, wird eine erhöhte Stressresistenz attestiert. Alle drei „Modelle“ sollen im Folgenden wegen ihrer Relevanz und den einfach aus ihnen abzuleitenden Präventionsempfehlungen kurz beschrieben werden.

 

Das Konzept der vollständigen Tätigkeit

Untersuchungen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass hochgradig zerstückelte Arbeit, beispielsweise Tätigkeiten am Fließband, in den Schreibbüros der sechziger Jahre ebenso wie in manchen heutigen Call-Centern bei den Beschäftigten zu Unzufriedenheit, Desinteresse und Leistungsrückgang führt. Man spricht von einer sogenannten „Entfremdung von der Arbeit“, eine Auseinandersetzung mit dem Arbeitsinhalt bzw. dem Arbeitsgegenstand findet kaum statt.

Anders die sogenannten „vollständigen Tätigkeiten“. Diese enthalten sowohl planende und steuernde (engl. „to control“) als auch ausführende und kontrollierende Elemente. Sie entsprechen damit dem Merkmal „Ganzheitlichkeit“ und ermöglichen in der Regel eine sehr differenzierte Auseinandersetzung mit dem Arbeitsgegenstand. Vollständige Tätigkeiten erfüllen die Kriterien der persönlichkeitsförderlichen Arbeit.

Im Konzept der vollständigen Tätigkeiten ist eine Arbeitsaufgabe (sequentiell oder zyklisch) vollständig, wenn sie:

 

ermöglicht.

 

Neben der zyklischen Vollständigkeit spielt auch die hierarchische Vollständigkeit eine entscheidende Rolle, d.h. Anforderungen erfolgen auf verschiedenen, einander abwechselnden Ebenen der psychischen Regulation (sensomotorisch, wissensbasiert und intellektuell).

Handwerkliche Tätigkeiten sind häufig zyklisch und hierarchisch vollständig und gelten daher als wenig psychisch belastend. Viele Aufgaben, wie beispielsweise die Pflege von Kranken, bergen die Möglichkeiten vollständiger Tätigkeiten, die Arbeitsorganisation beschneidet hier jedoch allzu häufig die zyklische Vollständigkeit indem Planung und Kontrolle nicht vom Arbeitnehmer übernommen werden. Im schlimmsten Fall wird auch die Abstimmung der einzelnen Tätigkeiten (Organisation) durch Vorgabe zu enger Rahmenbedingungen unmöglich gemacht.

Vollständige Tätigkeiten wirken offenbar leistungsmotivierend, vermeiden Dequalifizierung und sorgen für Wohlbefinden und Gesundheit indem sie sich positiv auf das Stressempfinden/Stresserleben der Beschäftigten auswirken.

Bei der Planung von Arbeitsaufgaben ist ein Unternehmer dementsprechend gut beraten, wenn er die Aufgabenbewältigung im Sinne des Konzeptes der vollständigen Tätigkeit ermöglicht.

 

Das Anforderungs-Kontroll-Modell

Die Grundlagen des Anforderungs-Kontroll-Modells (auch als „Job-Strain-Model“ oder „Demand-Control-Model“ geläufig) wurden in den 1970er-Jahren vom amerikanischen Soziologen Robert A. Karasek entwickelt. Im Anforderungs-Kontroll-Modell sind einerseits:

die maßgeblichen psychischen Aspekte der Erwerbsarbeit.

Anforderungen sind hier die qualitativen und quantitativen Arbeitsanforderungen einschließlich derer, die aus der Zusammenarbeit mit Kollegen und Vorgesetzten entstehen. Beispiele hierfür sind Arbeitscharakteristika wie Zeitdruck oder ungewollte Unterbrechungen.

Kontrolle über die Arbeitsaufgaben bedeutet, einerseits die eigenen Fähigkeiten anzuwenden und entwickeln zu können, andererseits Entscheidungsspielräume zu haben und nutzen zu können (z.B. wie viel eigene Kreativität die Arbeitsorganisation ermöglicht).

Wissenschaftlich als Skala genutzt, erfragt das Anforderungs-Kontroll-Modell ausschließlich das Vorhandensein der psychischen Anforderungen und der Kontrolle über die Arbeitsaufgaben und nicht, wie diese subjektiv von den Beschäftigten erlebt werden.

 

Das Effort-Reward-Imbalance-Modell

Das zweite, neben dem Anforderungs-Kontroll-Modell („job strain“) führende Modell zur Beschreibung der psychischen Belastung, ist das Modell beruflicher Gratifikationskrisen, das sogenannte Effort-Reward-Imbalance-Modell des Düsseldorfer Soziologen Johannes Siegrist. Es identifiziert Dauerstress im Beruf als Folge eines Ungleichgewichts zwischen hoher Verausgabung und als nicht angemessen empfundener (niedriger bzw. fehlender) Belohnung. Die Verausgabung kann aus eigenem Antrieb (intrinsisch, z.B. Versuch seine Sache so gut wie möglich zu machen) oder durch Druck von außen veranlasst sein (extrinsisch, z.B. durch Druck von oben etc.). Als Belohnung kommen neben Geld auch Aufstiegschancen und Arbeitsplatzsicherheit sowie die bei der Tätigkeit erfahrene Anerkennung in Frage. In der Praxis zeigt unsere eigene Lebenserfahrung häufig die Richtigkeit dieses Modells: Berichte von Topmanagern mit Herzinfarkt oder Burnout sind deutlich seltener als derartige Berichte von Mitarbeitern mittlerer Führungsebenen.

 

Zusammenfassung und Empfehlungen

 

 

 

Um psychische Belastungen möglichst gering zu halten, ist es daher schon bei der Arbeitsgestaltung aus arbeitswissenschaftlicher Sicht sehr empfehlenswert, von vornherein eine Aufgabenverteilung anzustreben, die vollständige Tätigkeiten zulässt. Weiterhin sind Investitionen in gut ausgebildete Mitarbeiter bzw. regelmäßige Fort- und Weiterbildung sinnvoll, da diese den Mitarbeitern eine höhere Kontrolle über ihre Tätigkeit ermöglichen. Bei der Führung von Mitarbeitern sollte bei hoher Verausgabung nicht mit Lob und Anerkennung gegeizt werden.

Für eine wirklich umfassende Gefährdungsbeurteilung zum Bereich der psychischen Belastungen muss bei der Analyse jedoch auch beachtet werden, dass in diesem Komplex selbstverständlich auch subjektive Empfindungen der Arbeitnehmer stark mit einfließen, die von Person zu Person variieren können.

Was für den einen Beschäftigten eine spannende Herausforderung darstellt, ist für den anderen möglicherweise reiner Stress.

 

 

Das Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin bietet ein Wahlfach zu diesem Themengebiet an.